Fragen an den Komponisten

Ein Selbstgespräch, 3. Juli 2017

Was bedeutet der Titel des Stücks, „Vertikale Struktur“?
Der Titel des Stückes bezieht sich zunächst auf Aspekte des Tonsatzes: Harmonik und Tonraum. Tonhöhenverläufe, die Bewegung zwischen „Oben“ und „Unten“, sind essentiell in Musik und haben auch außermusikalische Konnotationen, die Semantik generieren. Ein großer Komponist, bei dem das besonders deutlich wird, ist Beethoven. Des Weiteren ist der Begriff Struktur natürlich nicht nur musiktheoretisch, sondern vielfältig belegt, etwa durch philosophische und psychologische Betrachtungen, und das schwingt als Assoziationsfeld mit. Der Kompositionsprozess ist für mich immer ein Ausgleich zwischen konstruktivem und intuitivem Herangehen. Und das ist natürlich auch eine Struktur. Der Titel spielt damit, dass er technisch anmutet, aber ein weiter reichendes Assoziatonsfeld hat.
Wie ist die Harmonik in „Vertikale Struktur“ angelegt?
Die Grundidee besteht im Versuch, den Gegensatz zwischen einem konstruktiven Prinzip wie der beliebigen Permutation eines Intervallnetzes und der naturgegebenen Anordnung von Teiltönen eines harmonischen Spektrums aufzulösen. Am Anfang wird zunächst durchaus vertrautes Vokabular aufgegriffen, vor allem in der Stapelung von Quarten, mit verschiedenen Abweichungen und Ableitungen, was es ja schon bei Schönberg und z.B. auch im Jazz gibt, gegen Ende verschwimmt der Unterschied zwischen Harmonik und Farbe (Spektrum), zwischen Tönen und Teiltönen dann zunehmend. In der Zeit dazwischen geht es darum, den formbildenden Tendenzen dieser Harmonik nachzugehen, um den Titel eines Lehrbuchs von Schönberg aufzugreifen, wobei Form und Harmonik in meinem Stück eher locker gehandhabt werden. Allerdings spielt übrigens der berühmte Farbenakkord aus Schönbergs Orchesterstücken von 1909 eine gewisse Rolle in meinem Stück, gewissermaßen als nostalgisch-sehnsüchtige Idée fixe.
Gibt es einen Formplan?
Nur ein Formkonzept. Das Grundprinzip ist eine Ausprägung der Momentform, die teils auf Stockhausens Definition passt, nach der jeder Moment eigenständig und einmalig ist, teils dieser dagegen widerspricht, etwa in der Neigung zur Variantenbildung oder in Kontrastkanten, die eine bestimmte formale Situation herstellen und die Momente damit in Funktion zueinander setzen. Darüber liegt ein übergeordneter Prozess, eine spiralförmige, vereinfacht betrachtet diagonale Bewegung im Tonraum von unten nach oben. Ein Prozess, der eigentlich unterirdisch ist: eine Tendenz, an die sich die Musik im Fluss der Episoden gewissermaßen immer wieder erinnert. Die Überlagerung dieser Formprinzipien ermöglichte mir als Komponisten das Abenteuer einer Expedition ohne Karte, die auch als Traumerzählung erscheinen mag, dem Hörer ein subjektives Erlebnis von Temporalität (des Vergehens von Zeit) und Kontingenz (des Eintretens oder Nichteintretens von Ereignissen in der Zeit).

Skizze 2016, erste Version 2017, Kanon in der zweiten Version 2019

Wie gestaltet sich das Verhältnis zwischen Flöte und elektronischen Klängen?
Alle elektronischen Klänge sind zeitgleiche oder zeitversetzte Transformationen der Flötenstimme, die in Echtzeit aufgezeichnet und mitverfolgt wird. Die virtuellen Instrumente der Elektronik basieren auf drei klassischen Modulationsverfahren, welche die Tonhöhe eines gegebenen Klangs, also der Flöte, ändern (Verzögerung bzw. Beschleunigung, Analyse/Resynthese und Frequenzverschiebung). Das Stück kann auch als Kanon mit ständig wechselnden Konstituenten verstanden werden, zu denen nicht nur Einsatz- und Intervallabstand, sondern auch die Anzahl der Comes, also der folgenden Stimmen gehört, die zwischen 0 und neun liegen kann. Die Imitation ist mehr oder weniger erkennbar, manchmal ist sie ganz versteckt, manchmal fast karikaturesk überdeutlich, manchmal erscheint sie in verstreuten Tupfern.
Welche Software wird verwendet?
Ein- und Ausgabe, Klangsynthese und Spatialisierung passieren in einem Max-Patch, von dem ich Versionen für verschiedene Lautsprecherkonstellationen erstellt habe. Max ist eine grafische Entwicklungsumgebung für Audio und Multimedia. Ein wichtiges Objekt in diesem Patch ist Antescofo. Antescofo ist eine Entwicklung des IRCAM in Paris, der Name ist eine Kontraktion aus "anticipatory score following" (vorausschauende Partiturverfolgung). Die Entwickler, vor allem Arshia Cont und Jean-Louis Giavitto, haben mich bei Problemen wunderbar unterstützt ‒ im Gegenzug habe ich dazu beigetragen die Stabilität zu verbessern. Die listening machine von Antescofo interessiert sich grundsätzlich nur für das Spektrum, wodurch die Erkennung einerseits weitgehend unabhängig z.B. von der Artikulation bleibt, andererseits für bestimmte musikalische Situationen besondere Strategien erfordert, etwa bei Tonwiederholungen oder geräuschhaften Klängen. Ich habe einige Zeit in das Tuning der Synchronisation investieren müssen um eine stabile Version zu erhalten. Doch Antescofo ist ein phantastisches Werkzeug mit einer ausdrucksvollen Sprache, die eine feingliedrige Steuerung der scheduling engine auf einer hohen, abstrakten Ebene und einen komplexen Umgang mit Zeit ermöglicht.

Technischer Aufbau; Übersicht der Klangmodule (Version 2017)

Wie sollte das Stück gehört werden?
Mit entspannter Aufmerksamkeit. Das ist nur scheinbar ein Paradoxon. Das Stück dauert etwa zwölf Minuten und weist eine gewisse Dichte auf. Wenn man aber in das Stück „hineingeht“, besteht die Aussicht mit kleinen Augenblicken der Zeitlosigkeit belohnt zu werden.

Ergänzung (2022): Die neue Version des Stückes (zwischen 2019 und 2021 geschrieben und 2022 editiert) dauert etwa neunzehn Minuten.

Zuletzt aktualisiert: 2017-07-03 · 2022-08-12